08. Mai 2018

Interview mit Anne-Dauphine Julliand

Anne-Dauphine Julliand, als Schriftstellerin kennt man Sie, aber nicht als Regisseurin eines Dokumentarfilms. Was hat Sie dazu gebraucht, hinter der Kamera stehen zu wollen?

In meinen Büchern habe ich meine persönliche Geschichte erzählt, vor allem die anderthalb Jahre an der Seite meiner erkrankten Tochter. Anschliessend habe ich einige Kinderhilfswerke und Personen kennengelernt, die ähnliche Erfahrungen wie ich selbst gemacht hatten. Mir wurde dann bewusst, dass das, was ich mit meiner Tochter erlebt hatte, letztendlich etwas gewesen war, was spezifisch für Kinder und sogar etwas ist, das bei erkrankten Kindern ziemlich häufig vorkommt: Diese Sorglosigkeit, diese einzigartige Art, im Leben weiter zu gehen und immer vorwärts zu schauen.Ich hatte das Bedürfnis, dies zu zeigen. Auf jeden Fall wollte ich, dass es die Kinder uns selbst erzählen. Deshalb konnte ich dieses Mal kein Buch schreiben.

Seit seiner Erstaufführung in Frankreich hat der Film in der Öffentlichkeit einen grossen Erfolg verzeichnet. Hatten Sie eine derartige Reaktion erwartet? Wie erleben Sie das?

Wir wussten, dass das Thema universell und somit allgemeingültig ist. Der Film ist eine Einladung an den Zuschauer, seine kindliche Seele und seine Fähigkeit, den Augenblick zu geniessen, wiederzufinden. Auf der anderen Seite wussten wir auch, dass der Film, der von erkrankten Kindern handelt, erschrecken kann. Letztendlich waren viele überrascht, wie schnell die Zuschauer den Film so verstanden, wie er gemeint ist. In Frankreich haben inzwischen schon 225’000 Zuschauer den Film gesehen; das ist ganz unglaublich für einen solchen Film. Wir sind sehr glücklich darüber und empfinden diesen Erfolg als etwas äusserst Positives.

Wie konnten Sie die Kinder und die Eltern davon überzeugen, sich an diesem Projekt zu beteiligen?

Nicht ich bin als Erste auf die Familien zugegangen. Das wäre ziemlich unangemessen gewesen. Ich habe mich an Menschen gewendet, die diese Kinder kennen und sich tagtäglich mit ihnen beschäftigen. Dies sind die Personen, die mich auf die fünf Kinder des Films aufmerksam machten. Als ich mit den Familien Kontakt aufnahm, hatten sie ihre Zustimmung bereits gegeben. Ich war ziemlich erstaunt über den Enthusiasmus und die Spontaneität ihrer Zustimmung zum Film. Natürlich hatten sie viele Fragen, aber ich glaube, dass sie die Herangehensweise des Films gemocht haben. Der Film sollte vor allem über das Leben erzählen und über alles, was den Alltag ihrer Kinder prägt; und daher wollte ich den Kindern selbst das Wort erteilen.

Entsprach es einem bestimmten Vorsatz, junge Kinder zu zeigen, und nicht Jugendliche?

Ja, Jugendliche sind ein anderes Thema. Das ist auch ein schönes Thema, aber etwas völlig anderes. Ich wollte wirklich dieses Kind wieder aufwecken, das wir alle einmal waren. Diese Sorglosigkeit im Leben, diese sehr instinktive Art, mit dem Leben umzugehen, solange es noch nicht durch Prüfungen geprägt ist. Aus diesem Grund habe ich mich dazu entschieden, meine Auswahl auf Kinder zwischen fünf und neun Jahren zu beschränken.

Angesichts eines derartigen Themas ist das Risiko gross, in Schwarzmalerei und Pathos zu verfallen. Aber letztendlich ist der Film das genaue Gegenteil. Wie haben Sie das geschafft?

Ich bin ganz einfach so wie die Kinder vorgegangen und habe mich dem Thema genau wie sie gestellt. Kinder sind nicht pathetisch, sie haben keine Tabus. Man wird pathetisch, wenn man Mitleid mit seinem eigenen Schicksal hat, oder mit dem Schicksal einer anderen Person. Kinder jedoch haben kein Mitleid angesichts ihres Schicksals, das habe ich respektiert. Es gibt Momente, die schwierig sind, jedoch nichts Dramatisches an sich haben. Man verlängert den schwierigen Augenblick nicht, denn die Zeit der Schwierigkeit ist schon schwierig. Nachdem es vorbei ist, fängt man wieder mit dem Spielen an.

Man wird durch die positive Haltung und die Reife dieser Kinder berührt. Trotz der Schwere ihrer Erkrankung finden sie den richtigen Platz für ihre Krankheit; sie relativieren sie und möchten, dass ihre Eltern sich genauso verhalten. Ist das für diese fünf Kinder spezifisch?

Ich glaube, dass alle Kinder diesen Geisteszustand teilen. Es ist das Eigentümliche der Kindheit und der menschlichen Natur, denn wir waren alle Kinder. Bei diesen fünf Kindern ist das ein bisschen extrapoliert, weil es erlebt wurde. Anschliessend sind sie positiv, ja, aber ich finde, dass sie dennoch ziemlich realistisch sind. Realistisch zu sein, ermöglicht es ihnen letztendlich, positiv zu sein. Wenn etwas traurig ist, dann sagen sie es, aber sie lassen es nicht zu, dass die Erkrankung alle Aspekte ihres Lebens beherrscht. Sie bleiben trotz allem Kinder, und das ist das Schöne am Film. Man sieht sie spielen, sie haben ihre Freunde, sie gehen zum Fussball, sie gehen ins Theater, sie streiten mit ihren Geschwistern … Es gibt auch das Leben, nicht nur die Krankheit. Die Krankheit ist lediglich ein Teil des Lebens.

Der Film enthält jedoch einige schwierige Augenblicke, wie zum Beispiel die Szene der Pflege von Charles. Warum haben Sie diese Szene bis zur Endfassung beibehalten?

Die Kinder selbst hatten mich darum gebeten. So hatte mir zum Beispiel Charles gesagt: «Wenn du die Badeszene nicht filmst, dann nützt es nichts, mein Leben zu filmen». Noch einmal: Sie sind sehr realistisch. Diese Kinder leben nicht in der Welt der Glücksbärchen … wenn man ihre alltäglichen Schwierigkeiten sieht, finde ich, dass man ihre Freude umso mehr schätzt. Ihr Leben ist schwierig, aber das hindert sie nicht daran, es zu lieben.

Ist das Ihrer Meinung nach auch ein Film, den man Kindern zeigen sollte?

Unbedingt. Es gab fünfjährige Zuschauer, die ihn mit ihren «fünfjährigen» Augen gesehen haben. Dieser Film wurde auf Augenhöhe der Kinder gedreht und erteilte ihnen das Wort. Ich glaube daher, dass die Kinder ihn von Gleich zu Gleich sehen werden. Sie werden aus dem Film auch andere Erzählstränge herauslesen. Wenn Tugdual sagt: «Nichts hindert einen daran, glücklich zu sein», ist ein fünfjähriges Kind deswegen nicht erstaunt. Uns hingegen überrascht es. Bei den jüngsten Zuschauern kann dies jedoch andere Dinge ansprechen, wie zum Beispiel das Akzeptieren des Unterschiedes; die Tatsache, einen kranken Freund oder eine kranke Freundin zu haben; die Integration usw.

Nicht nur «Mistral gagnant» begleitet den Film, sondern auch die allgegenwärtige Melodie des Lachens der Kinder. Ist das Lachen einer der Schlüssel zum Glück?

Der Vorteil besteht darin, dass bei einem Kind das Lachen tatsächlich spontan ist. So hat Ambre zum Beispiel ein ausserordentliches Lachen! Ich würde sogar sagen, dass das Lachen der ansteckende Ausdruck des Glücks ist.

Neben der Stiftung Theodora gibt es zahlreiche Personen und Organisationen, die sich zusätzlich zum Pflegepersonal und den Eltern engagieren, um das alltägliche Leben der Kinder im Spital zu verbessern. Was löst dieser Gedanke bei Ihnen aus?

Die Kinder sind im Leben, was auch immer geschehen mag. Im Krankenhaus sind sie weiterhin im Leben. Sie suchen weiterhin danach, wie sie lachen, spielen und sogar zur Schule gehen können. Alle diese Organisationen ermöglichen es dem Kind, vollständig im Leben zu verbleiben, anstatt sich ausschliesslich auf die Pflege zu konzentrieren. Sie lösen manchmal Eltern ab, deren Herz nicht immer leicht genug ist, um mit ihrem Kind in diesen Augenblicken spielen zu können, und die nicht immer den erforderlichen Abstand aufbringen, um der geistigen Verfassung eines Kindes nachspüren zu können. Es geht dann um eine dritte Person, die sich freiwillig mit der Situation befasst, ohne direkt betroffen zu sein, jedoch mit einem wohlwollenden Blick. Und für die Kinder, auch die ganz kleinen, ist der Blick wichtig. Die Tatsache, mit ihnen spielen zu wollen und sie als Kinder anzusehen, ermöglicht es ihnen, Kinder zu bleiben. Dies ist daher absolut notwendig.

Was könnte Ihrer Auffassung nach noch getan werden, um das alltägliche Leben erkrankter Kinder zu verbessern?

Zunächst ist festzuhalten, dass in diesem Bereich schon viele Fortschritte erzielt wurden. Man betrachtet inzwischen schon das Kind als Patient, also als die hauptbetroffene Person. Die Ärzte wenden sich immer mehr an sie. Darüber hinaus kümmert man sich um die Schmerzen. In Frankreich existiert eine Null-Toleranz gegenüber Schmerzen bei Kindern. Spitäler werden menschlicher, und das ist eine gute Nachricht. Das einzige, was man meiner Meinung nach ein wenig mehr berücksichtigen sollte, ist das Wohlergehen der Eltern, wenn ihr Kind im Krankenhaus ist. Ich kann nicht für die Schweiz sprechen, aber in Frankreich ist dies häufig problematisch. Die Eltern kommen an und wissen nicht, wo sie bleiben sollen, sie wissen noch nicht einmal, wo sie schlafen können oder ihre Mahlzeiten einnehmen werden usw. Alle diese kleinen Dinge, die dazu führen, dass das Leben schwierig ist, wenn das Kind im Spital liegt. Alles, was das Leben der Eltern erleichtert, die ein Kind begleiten, wird das Leben des Pflegepersonals und des Kindes erleichtern. Letztendlich wird dadurch das Leben aller Beteiligten leichter.

Der Dokumentarfilm «Et les Mistrals gagnants» ist ab dem 10. Mai in den Kinos der Deutschschweiz zu sehen.

 

Ein Film voller Leben

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