30. September 2022
«Alle Kinder haben ein Recht auf Spass»
Die Stiftung Theodora sendet ihre Traumdoktoren wöchentlich schweizweit in die Spitäler und heilpädagogischen Institutionen auf Visite. Thierry Jacquier, Ausbilder bei der Stiftung Theodora und selbst Traumdoktor, spricht über die Besonderheiten der Besuche in spezialisierten Institutionen für Kinder mit Behinderung.
Thierry, wie lange arbeiten Sie nun bereits mit den verschiedenen spezialisierten Institutionen zusammen?
Mittlerweile sind es über 20 Jahre. Unser Programm «Herr und Frau Traum» wurde 1998 in der heilpädagogischen Schule in Chambésy uraufgeführt. 2012 kam dann das «Kleine Orchester der Sinne», ein interaktives Musikspektakel für Kinder mit Behinderung, dazu. Inzwischen treten meine Kollegen und ich regelmässig in 27 spezialisierten Institutionen in der ganzen Schweiz auf.
Welche Unterschiede gibt es zwischen den Besuchen in den Institutionen und den Spitälern?
Die Herangehensweise ist eine komplett andere, in vielerlei Hinsicht. Wenn wir in die Institutionen gehen, besuchen wir die Bewohnerinnen und Bewohner nicht als Traumdoktoren, sondern als «Herr und Frau Traum». Diese Kinder sind nicht krank, sondern leben und entfalten sich in ihrer eigenen Welt, nach ihrem eigenen Rhythmus. Und deshalb treten wir auch nicht im weissen Spitalkittel auf, sondern in anderen Kostümen. Speziell sind auch die Herangehensweise und der Kontakt, den wir zu den Kindern aufbauen können. Der grosse Unterschied zu den Spitalbesuchen ist, dass die Kinder überhaupt nicht «schummeln». Sie zeigen uns durch ihren Blick, ihre Körperhaltung oder auch durch ein Wort, ob sie dabei sein wollen oder nicht. Im Spital habe ich ab und zu den Eindruck, dass die Kinder sich, vielleicht aus Respekt, auf unser Spiel einlassen, auch wenn sie nicht unbedingt Lust dazu haben.
In den Institutionen hingegen ist der Kontakt viel authentischer, ungefiltert, aber genau das ist das Grossartige daran. Umgekehrt begegnen wir dort aber auch vielen Kindern mit einer schweren Behinderung. Ihre Reaktion können wir nur schwer wahrnehmen. Mit der Zeit und besonders auch mit der Hilfe des pädagogischen Teams gelingt es uns, gewisse Details wie Laute, Blicke oder Bewegungen wahrzunehmen, zu interpretieren und den Kindern so spielerische Augenblicke anzubieten, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Dazu braucht es manchmal Zeit, ganz klar. Ich erinnere mich beispielsweise an ein Kind, das fünf Jahre gebraucht hat, bis es meine Anwesenheit akzeptiert hat. Und genau dieses Kind ist heute das erste, das an den Besuchstagen ungeduldig an der Türschwelle auf uns wartet.
Wie genau laufen die Besuche von Herrn und Frau Traum ab?
Das hängt von den Institutionen ab. Wir passen uns an ihre Funktionsweise und ihre Erwartungen an. Alles beruht auf einer engen Zusammenarbeit mit den dortigen pädagogischen Teams. Manchmal unterbrechen Klassen ihren Unterricht für unseren Besuch. Dann schlagen wir eine Mini-Performance oder eine gemeinsame Aktivität vor. In anderen Institutionen besuchen wir die Kinder in ihren Wohnräumen. Wir bauen diesen Wohnraum situativ in unseren Besuch ein, sei es beim Aufstehen, beim Zvieri-Essen oder bei einer Freizeitaktivität. In diesen Fällen schlüpfen wir in die Rolle eines «Gspänli», dass Zeit mit den Kindern verbringt und sich in ihren Alltag einfügt. Manchmal greifen wir ein Thema auf und gestalten eine Einheit dazu, beispielsweise mit Papierfliegern. Mal funktioniert das ganz gut, mal weniger. Zum Glück können wir in solchen Fällen auf die Unterstützung des pädagogischen Teams zählen, das uns gegebenenfalls aus der Patsche hilft und das Ruder rechtzeitig herumreisst.
Welche Ausbildung erhalten die Künstler um diese Art von Besuchen durchführen zu können?
Während der Erstausbildung besuchen die Künstler im Zentrum für Entwicklungsförderung und pädiatrische Neurorehabilitation der Stiftung Wildermeth Biel ein spezifisches Modul für diese Programme. Dabei werden die Künstler für die verschiedenen Formen von Behinderung, mit denen sie in Kontakt kommen werden, sensibilisiert. Aber auch die Organisation und die Funktionsweise von Institutionen für Kinder mit Behinderung werden im Modul thematisiert, ebenso wie die Rolle und die Herausforderungen der dort arbeitenden Fachpersonen. Was die künstlerische Seite angeht, arbeiten wir besonders mit den Sinnen und der inneren Wahrnehmung. Im Rahmen dieses Moduls absolvieren die angehenden Theodora-Künstler unter der Aufsicht von «Mentoren» deshalb mehrere Besuche in spezialisierten Institutionen, bevor sie dann ihr «Traumdoktor»-Diplom erhalten.
Sie haben zu Beginn des Interviews kurz das Programm «Kleines Orchester der Sinne» angesprochen. Was muss man sich darunter vorstellen?
Das kleine Orchester ist aus dem Wunsch heraus entstanden, Kindern mit Behinderung einen zusätzlichen Moment der Freude und der Abwechslung zu ermöglichen. Dieses Programm wird von drei Künstlern gestaltet und folgt einer sehr einfachen musikalischen Form: Einleitung, Hauptteil, Schluss. In jeder Szene haben die Kinder die Möglichkeit, über ihre Sinne mit dem Geschehen auf der Bühne zu interagieren. Dies können Töne, Gerüche oder Dinge zum Anfassen sein. Die Geschichte wird auf diese Art und Weise entwichelt und erzählt. Die Aufführung erfolgt jeweils vor einem kleinen Publikum von 10, 15 oder maximal 20 Kindern. Dies ist die Grundvoraussetzung, damit wir nah an den Kindern sein und ihnen Zeit und Raum geben können, die Dynamik zu spüren und aufzugreifen. Das Stück wird jeder Institution zwei Mal pro Jahr angeboten und dauert rund 45 Minuten. Je nach Grösse der Institution gibt es zwei bis drei Aufführungen pro Tag.
Was gibt Ihnen die Arbeit in diesen spezialisierten Institutionen?
Die Kinder geben uns extrem viel zurück. Wie bereits erwähnt, ist ihre Rückmeldung sehr direkt, stark, authentisch und absolut ungefiltert. Wenn sie Freude haben, uns zu sehen, dann zeigen sie es uns auch. Und das zeigt uns wiederum die Wichtigkeit und den Wert dieses Programms.